Der vietnamesische Mönch Thích Nhất Hạnh gibt vielen Menschen aus der LBSTQIA+ Gemeinschaft eine Heimat. Seine Auslegung des Buddhismus ist nicht moralischer Natur.
Ich bin eine buddhistische Lesbe und eine Cisgender-Frau, die in den 1950er-Jahren im Süden der USA aufgewachsen ist. In meiner Jugend waren die Fernsehnachrichten jeden Abend voll mit Bildern von Afroamerikanern, die für ihre Menschenrechte protestierten und dabei von der Polizei geschlagen, gefesselt und weggeschleppt wurden. Diese Bilder erweckten in mir eine tiefe Sehnsucht nach Gerechtigkeit. Ich schwor mir, dass ich als Erwachsene für einen gewaltfreien sozialen Wandel kämpfen würde.
Die amerikanische Bürgerrechtsbewegung inspirierte andere amerikanische Bewegungen, darunter die Frauenrechtsbewegung und die LBSTQIA+ Bewegungen. Ich habe die meiste Zeit meines Erwachsenenlebens damit verbracht, einen Beitrag zu den beiden letztgenannten Bewegungen zu leisten.
Auch auf meiner spirituellen Suche hielt ich Ausschau nach einer Praxis, die Gewaltlosigkeit und soziales Handeln unterstützt sowie Frauen und LBSTQIA+ Menschen als Gleichberechtigte willkommen heißt. Ich fand eine solche Heimat in den buddhistischen Lehren über Befreiung und speziell in den Lehren des vietnamesischen Mönchs Thích Nhất Hạnh, kurz „TNH“.
Meine Frau machte mich 1987 mit TNH bekannt. Sie arbeitete in einer internationalen Friedensorganisation, kannte ihn schon seit einigen Jahren und war angezogen von seinem Beharren auf Inklusivität und engagiertem Buddhismus.
Meine Frau und ich sind immer offen mit unserer lesbischen Identität umgegangen, sowohl als Einzelpersonen als auch als Paar. Wir haben uns von der Sangha rund um TNH bereitwillig angenommen gefühlt. Als meine Frau TNH in den frühen 1980er-Jahren zum ersten Mal traf, sprach sie ihn explizit zu den buddhistischen Perspektiven auf Homosexualität an. TNH antwortete, dass der Buddhismus nicht moralistisch sei. Es gäbe keine Verbote gegen Homosexualität. Dies wiederholte er in vielen Gesprächen mit Schüler immer wieder. Als er in einem öffentlichen Dharma-Vortrag am 20. Juli 1998 erneut gefragt wurde, was der Buddhismus über Homosexualität sagt, antwortete er: „[...] wenn eine Lesbe über ihre Beziehung zu Gott nachdenkt, kann sie, wenn sie tief praktiziert, herausfinden, dass Gott auch eine Lesbe ist […] Gott ist eine Lesbe, das ist es, was ich denke, und Gott ist auch schwul. Gott ist nichts weniger. Gott ist eine Lesbe, aber auch ein Schwuler, ein Schwarzer, ein Weißer, eine Chrysantheme. Nur weil ihr das nicht versteht, diskriminiert ihr.“ In dem Buch „Antworten von Herzen“ schreibt er: „Du solltest du selbst sein. Wenn Gott mich als Rose erschaffen hat, dann sollte ich mich als Rose akzeptieren. Wenn du eine Lesbe bist, dann sei eine Lesbe.“
In den späten 1980er-Jahren war es in Plum Village üblich, dass sich Laienpraktizierende Affinitätsgruppen anschlossen, um Dharma-Vorträge zu diskutieren. Wenn eine Schwulen- und Lesben-Affinitätsgruppe angekündigt wurde, ist die gewöhnlich von zehn bis zwanzig Praktizierenden besucht worden. Im Jahr 2016 sprachen geschlechtsnonkonforme junge Menschen über die Akzeptanz, die sie empfanden, als eine Nonne eine Diskussion eröffnete, indem sie die Leute nach ihren Namen fragte und welche Pronomen sie bevorzugten. In Dharma-Vorträgen wird zunehmend das Wort „they“, eine Zusammenziehung der Pronomen, „she“, „sie“ und „he“, „er“, verwendet. Während einer formellen Zeremonie, bei der die Gemeinschaft getrennt saß, Frauen auf der einen Seite, Männer auf der anderen, sagte jedoch mindestens eine nichtbinäre Person, dass sie nicht teilnehmen konnte. Die Genderfluidität spiegelt zwar buddhistische Lehren wie die Unbeständigkeit wider, doch gleichzeitig ist mehr Reflexion darüber notwendig, wie man transsexuelle, intersexuelle und geschlechts-nonkonforme Praktizierende vollständig miteinbeziehen kann.
Laienfrauen und Nonnen sind in Plum Village und anderen Praxiszentren in der Mehrheit, aber Zahlen bedeuten nicht immer Gleichberechtigung. TNH hat viele Erneuerungen durchgeführt, um die Gleichberechtigung der Geschlechter hervorzuheben. Es gibt eine volle Ordination für Nonnen. Mönche und Nonnen, ebenso wie Laienpraktizierende, teilen sich alle Aufgaben, von Dharma-Vorträgen bis zur Organisation. Während formeller Zeremonien gehen die Nonnen nicht hinter den Mönchen, sondern sie gehen Seite an Seite. In der Praxis „Die Erde berühren“ werden Niederwerfungen in Gedenken an die Vorfahren durchgeführt. Dabei ist Bhikshuni Mahagotami, die erste von TNH ordinierte Nonne, ebenso eingeschlossen wie Mutter Erde. TNH hat auch acht „Gurudharmas“ für Mönche erstellt. Es handelt sich um Richtlinien für Mönche zum Umgang mit Nonnen. Sie sind als Pendant zu den von Buddha geschaffenen Richtlinien für Nonnen zum Umgang mit Mönchen gedacht. Traditionellerweise kann ein Mönch die Robe siebenmal ablegen, also wieder Laie werden, und als Mönch zurückkehren. Wenn eine Nonne die Robe ablegt, kann sie lediglich als Novizin zurückkehren und nicht wieder die volle Ordination erhalten. In der Plum-Village-Tradition können Nonnen ebenso wie Mönche erneut die volle Ordination erhalten.
Ich habe bei TNH ein Zuhause gefunden und bringe die alten Einsichten des Buddhismus und die neuen Einsichten TNHs in eine Welt, die dringend Mitgefühl und rechtes Handeln braucht.
Der IO begann inmitten des Vietnamkrieges. Im Jahr 1966 ordinierte TNH in Vietnam sechs Laienanhänger. Diese sechs jungen Leute, drei Frauen und drei Männer, waren Leiter in der „School of Youth for Social Service“ (SYSS), einem damals neuen Ausbildungsprogramm für vietnamesische Jugendliche, die sich für ländliche Entwicklung und sozialen Wandel engagieren wollten. Der IO ist explizit einem engagierten Buddhismus verpflichtet. Er will die Modernisierung des Buddhismus und kümmert sich um soziale Probleme. Das Herzstück des Ordens sind die „14 Gelübde“, eine Überarbeitung der klassischen monastischen Vorschriften und insbesondere der Bodhisattva-Gelübde. Die Mitglieder gelobten, mindestens sechzig Tage im Jahr Achtsamkeit zu praktizieren. Zweitens stimmten sie zu, mit einer Gemeinschaft von Freunde zu praktizieren.
1982 wurde das Meditationszentrum Plum Village im Département Dordogne im südlichen Frankreich gegründet. Heute arbeiten über 2.000 Mitglieder des IO an Themen wie Rassismus, Klimawandel, Armut und Intoleranz.
Shelley Anderson (sie/ihr) lebt in den Niederlanden. Sie ist seit 1994 Mitglied des Intersein Orden. Sie ist die Gründerin des International Fellowship of Reconciliation‘s Women Peacemakers Program und arbeitete mehrere Jahre für den International Lesbian Information Service.
Übersetzt von Mag. Dennis Johnson, erschienen in Ursache und Wirkung, 2021, "Buddhismus unter dem Regenbogen"