"Frauen unterstützen Frauen nicht genug"

Interview mit Thubten Chodron

von Carola Roloff

Thubten Chodron, 1950 in der Nähe von Los Angeles geboren, studierte Geschichte an der Universität von Kalifornien und arbeitete als Lehrerin in einer Schule. Sie traf 1975 auf den Buddhismus und ließ sich 1977 zur Noviz-Nonne ordinieren. 1986 erhielt sie in Taiwan die volle Ordination zur Bhikshuni und ist seitdem als Dharmalehrerin tätig. Ihre wichtigsten Lehrer sind S.H. der Dalai Lama, Lama Zopa Rinpoche und Tsenzhap Serkong Rinpoche. Thubten Chodron gründete 2003 Sravasti Abbey.

Frage: Seit geraumer Zeit verfolge ich Deine Aktivitäten und frage mich, wie Du glücklich bleibst angesichts so vieler Schwierigkeiten, mit denen Du Dich als Pionierin auf Deinem Gebiet auseinandersetzen musst. Hast Du ein Geheimrezept? Ich sehe Dich immer lachen.

Antwort: (lacht) Die Lehre hat mich mit voller Wucht getroffen als ich Buddhistin wurde. Ich bemühe mich einfach, sehr viel Lamrim (den Stufenweg zur Erleuchtung) und Lojong (Geistesschulung) zu praktizieren. Das macht meinen Geist glücklich. Wenn ich zu einer Zeit meditiere, in der ich voll verzerrter Konzepte bin, etwa wenn ich die flüchtigen Dinge als beständig ansehe oder das, was leidhaft ist, für Glück halte, dann wird mein Geist durch die Meditation ruhig. Alles wird wieder in die richtige Perspektive gerückt.

Frage: Meditierst Du jeden Tag oder manifestieren sich die Dharma-Inhalte eher im täglichen Leben?

Antwort: Während einer Klausur bemühe ich mich, tiefer zu gehen. Im täglichen Leben versuche ich, die Dinge zu beobachten. Bemerke ich, dass mein Geist Anzeichen von Aufregung zeigt, mache ich einen Spaziergang. Während ich gehe, vergegenwärtige ich mir die buddhistischen Belehrungen. Danach gehe ich in mein Zimmer, sitze und denke über meine Reaktionen nach.

Frage: In den achtziger Jahren gingst Du ins Dorje Pagmo-Kloster nach Frankreich, wo du drei Jahre Lehrerin warst. Warum scheiterte das Projekt? Es war das erste Nonnenkloster in Europa.

Antwort: Aus meiner Sicht gab es dafür mehrere Gründe. Ein Punkt war, dass es dort keine wirklich erfahrenen Nonnen gab. Ich selbst war zu dem Zeitpunkt erst fünf Jahre ordiniert und meine Ordensschwester Chandrikarta acht Jahre. Das ist keine lange Zeit. Ein anderer Faktor waren die Strukturen. Die Geshes waren diejenigen, die uns sagten, was wir tun sollten. Sie taten es auf der Basis dessen, was für tibetische Männer funktioniert. Das unterscheidet sich jedoch von dem, was westliche Frauen brauchen.

Frage: Kannst Du ein Beispiel nennen?

Antwort: Ja, etwa der Umgang mit Konflikten. Bei den Tibetern ist es allgemein üblich, dass sie jemanden nicht direkt ansprechen, wenn sie Probleme mit ihm haben. Wenn die Männer dann Streit hatten, hieß es immer "Halte den Mund". Diese Art der Konfliktbewältigung entspricht uns Frauen nicht. Darüber hinaus gab es finanzielle Probleme, denn wir alle hatten für unseren Aufenthalt dort zu bezahlen. Wir Nonnen mussten im Institut arbeiten, z.B. die Toiletten der Laien reinigen, und erhielten dafür Verpflegung und Unterkunft. Als wir nicht mehr für die Laien arbeiteten, mussten wir unseren eigenen Lebensunterhalt verdienen. Das war schwierig. Wie kannst Du Deine Nonnen-Gelübde einhalten und gleichzeitig Geld verdienen? Ich konnte daran aber nichts ändern, denn ich hatte als so genannte Direktorin nicht wirklich das Sagen. Ich wurde von den Nonnen nicht als Autorität angesehen.

Frage: Waren die Nonnen ohne Führung?

Antwort: Die Geshes leiteten die Nonnen an, indem sie uns ausgezeichnete Dharma-Belehrungen gaben. Doch ihre Erfahrungen basierten auf dem, was ihnen aus tibetischen Klöstern vertraut war, Klöstern, die seit Jahrhunderten bestanden, wo sie Verwandte, eine Gemeinschaft und Unterstützung hatten. Wir Westler hatten all das jedoch nicht und standen vor ganz anderen Herausforderungen.

Frage: Was ist der Grund dafür, dass auch im Buddhismus die wenigsten Frauen höhere Positionen erreichen?

Antwort: Buddhisten sagen, dass alle gleich sind, aber in der Realität setzen sich Gesellschaften aus Menschen zusammen, die mit geschlechtsspezifischen Vorurteilen behaftet sind. Ich glaube nicht, dass die tibetischen Lamas von sich denken, sie hätten Vorurteile gegenüber dem weiblichen Geschlecht. Aber Fakt ist, dass sie stets in einem Umfeld gelebt haben, in dem es nur Mönche gibt und Nonnen keine wichtige Rolle spielen.

"Leider unterstützen Frauen nicht immer andere Frauen"

Die meisten Lamas, denen ich begegnet bin, waren persönlich sehr, sehr ermutigend. Natürlich kommt es auch auf die Frauen an. Leider unterstützen Frauen nicht immer andere Frauen. Ich habe einiges über die Psychologie von Minderheiten oder verfolgten Gruppen gelesen, und es ist eine typische Verhaltensweise für Minoritäten und unterdrückte Gruppen: Die Mitglieder unterstützen sich nicht gegenseitig. Da sie unterdrückt oder benachteiligt sind, denken sie nicht daran, sich gegen die über ihnen zu behaupten und entwickeln stattdessen eine Hierarchie untereinander. Ich denke, dass dies manchmal unter den Afroamerikanern in den USA passiert, und ich beobachte es auch unter Frauen, die einander nicht trauen. Warum? Weil die, die an der Macht sind, den Frauen nicht trauen und die Frauen dann unreflektiert das Beispiel derer, die an der Macht sind, übernehmen. "In der Gelug-Tradition herrscht jedoch vielfach das Gefühl vor, dass die Westler nicht authentisch sind."

Beim FPMT gibt kein Westler Initiationen. Das ist interessant, denn Freunde aus der Nyingma- und Kagyü-Tradition geben Initiationen. In der Gelug-Tradition herrscht jedoch vielfach das Gefühl vor, dass die Westler nicht authentisch sind. Es gibt tibetische Zentren, in denen die Leute ihrem tibetischen Lehrer so viel Respekt entgegenbringen, dass ihre eigenen Ideen, ihre eigene Kreativität abgeschnitten werden. Sie machen nichts, ohne dass der Lehrer es ihnen gesagt hätte.

Als ich die Idee hatte, ein Kloster zu eröffnen, wollte ich mit S.H. dem Dalai Lama sprechen, denn ich würde es dann mit einem anderen Gefühl tun. Seine Heiligkeit spornte mich an und sagte: "Ja, großartig, fang' an", aber nicht alle tibetischen Geshes teilten diese Idee, dass ein Westler ein buddhistisches Kloster gründet.

Bewusst eine Gemeinschaft aufbauen

Frage: Du hast dann Sravasti Abbey gegründet. Ging damit dein Traum von einem Kloster in Erfüllung?

Antwort: Wir haben erst vor etwa zweieinhalb Jahren eröffnet. Es dauert eine Weile, bis sich Menschen zur Ordination entscheiden. Auf jeden Fall möchte ich für Mönche und Nonnen gleichermaßen da sein. Es gibt zu wenig buddhistische Ordensleute im Westen, als dass wir uns auf verschiedene Organisationen aufteilen könnten. Ein weiterer Grund ist, dass ich auch männliche Studenten habe, und ich möchte kein "Ausgrenzungskarma" anhäufen. Weiter haben wir Westler andere Umgangsformen. Männer und Frauen können auch Freunde sein, was in asiatischen Gesellschaften nicht üblich ist. Zudem leben wir in einer Kultur, in der Sex so stark im Vordergrund steht, dass wir in der Lage sein müssen, über unsere Sexualität zu sprechen, anstatt uns einfach 100 Kilometer von allen Leuten entfernt zu halten, zu denen wir uns hingezogen fühlen könnten.

Wenn ich mir die Ordinierten anschaue, die ich kenne und die ihre Gelübde zurückgegeben haben, so geschah dies nicht, weil sie sich von jemandem sexuell angezogen fühlten, sondern weil sie einsam waren. Sie machen zwar viel Dharmapraxis, hören philosophische Belehrungen, hören und leisten angestrengt intellektuelle Arbeit, aber es fehlt das Gemeinschaftsgefühl. Deshalb bin ich der Ansicht, dass es ausgesprochen wichtig ist, den Buddhisten ein Gefühl der Geborgenheit und Fürsorge zu vermitteln.

Da die Tibeter in einer Gesellschaft leben, in der sie schon als Kinder ins Kloster ziehen, müssen sie sich keine Gedanken darum machen, eine Gemeinschaft zu bilden. Hier im Westen jedoch müssen wir bewusst eine Gemeinschaft aufbauen. Je besser die Gemeinschaft ist, desto weniger Ordinierte werden ihre Gelübde zurückgeben.

"Ich möchte für Mönche und Nonnen da sein und kein Ausgrenzungskarma mehr schaffen."

Frage: Was ist der Zweck von Sravasti Abbey?

Antwort: Das Ziel ist, eine klösterliche Gemeinschaft in Amerika zu etablieren, denn diese ist von zentraler Bedeutung für die Verbreitung des Dharma im Westen. Ich weiß nicht, wie es in Europa ist, aber in Amerika existieren so viele Möglichkeiten für Laien, während die Ordinierten an den Rand gedrängt werden und keinen Ort zum Leben haben. Das Augenmerk liegt stets auf dem Unterricht für Laien. Selbst wenn man ordiniert ist, bekommt man kein richtiges klösterliches Training.

In Sravasti Abbey ist es anders. Es ist weder ein Dharmazentrum noch ein Klausurhaus, denn die Menschen in diesem Land denken immer sofort: "Oh, ein Dharmazentrum - wenn ich Geld bezahle, werden sie sich um mich kümmern." Eine Sache, die wir praktizieren, unterscheidet sich wesentlich von anderen Zentren in der buddhistischen Szene in Amerika: Wir nehmen kein Geld.

Frage: Und das funktioniert?

Antwort: Ja, es funktioniert, es gibt uns noch. Wir essen lediglich Nahrung, die gespendet wurde. Diejenigen, die zu uns kommen, bringen ihre eigenen Lebensmittel mit oder lassen sie kommen. Als ich anfing, stand keine Organisation hinter mir, ich hatte keinen Cent Geld. Dieser ganze Ort konnte nur entstehen, weil es Menschen gab, die an meine Vision glaubten und entsprechende Mittel zur Verfügung stellten. Das Geld, das ich einnehme, wenn ich an anderen Orten unterrichte, und meine Tantiemen stecke ich ins Kloster, so haben wir bisher überlebt.

Frage: In Sravasti Abbey verzichtet ihr auf Fernsehen und Radio. Hilft das der Dharmapraxis?

Antwort: Ich bin der Meinung, dass es sehr wichtig ist, äußere Ablenkungen fernzuhalten. Wenn ich fernsehe und mich dann zur Meditation hinsetze geht mir das, was ich gesehen habe, durch den Kopf. Trotzdem schotten wir uns nicht ab. Wir arbeiten hier beispielsweise mit Gefängnisinsassen, die wir betreuen.

"In Sravasti Abbey nehmen wir kein Geld für Kurse und essen nur Nahrung, die gespendet wurde."

Frage: Wie organisiert ihr Sravasti Abbey?

Antwort: Wir haben einen riesigen Berg Arbeit, aber auch fähige Leute hier, welche die verschiedenen Bereiche leiten. Der Schlüssel ist, dass die Menschen gut miteinander kommunizieren. Worauf wir hier von Anfang an Wert gelegt haben ist, dass wir es nicht Arbeit nennen, sondern Dienst an der Gemeinschaft. Der Gemeinschaft diesen Dienst darzubringen ist Teil der Dharmapraxis.

Wenn man den ganzen Tag auf seinem Kissen sitzt, ist das wunderbar; wenn man mit Menschen arbeitet, ist es etwas ganz anderes. Ich glaube an das Zusammenleben in einer Gemeinschaft und die Analogie, die wir hier benutzen, ist die von Steinen in einer Schleudertrommel. Man stößt aneinander und dabei werden die rauen Kanten geglättet. Die Gemeinschaft ist ein Ort für diesen Prozess.

Gemeinschaftsdienst sollte mit einem freudigen Geist dargebracht werden, denn man weiß, er dient dem Wohl des Ganzen; dadurch zeigt man Fürsorge und Zuneigung gegenüber anderen.

Frage: Wie vermeidest du, dich zu überfordern?

Antwort: Manchmal ist das eine Herausforderung. Wenn man solch einen Ort aufbauen will, gehört für mich dazu, dass man gerade zu Beginn willens ist, Schwierigkeiten anzunehmen und sich nicht dem Ideal eines friedlichen klösterlichen Lebens hinzugeben. Man muss den Willen haben, einen Ort aufzubauen in dem Bewusstsein, dass zukünftig andere Generationen kommen werden, um die Früchte zu ernten. Das lässt mich mit einem glücklichen Geist den Dienst tun und die Mühen auf mich nehmen. Diese Geisteshaltung ist bei uns Teil der Praxis. Für drei Monate im Jahr schließen wir diesen Ort und gehen in Klausur. Wir haben das von Beginn an getan, so dass man weiß, dass man zumindest drei Monate im Jahr mit niemandem spricht und sich der eigenen Praxis widmen kann.

Frage: Es scheint, dass viele tibetisch-buddhistische Zentren im Westen eher die Praxis betonen und weniger den Gemeinschaftsdienst.

Antwort: Ja, auf was ich oft gestoßen bin, ist, dass jeder denkt: "Wohin kann ich gehen, wo ist es am vorteilhaftesten für mich, für meine Dharmapraxis? Ich will die besten Belehrungen für meine Praxis, ich möchte die besten Lebensumstände für mich." Die Menschen, die das wollen, sollen diese Orte suchen. Hier jedoch will ich einen 300-Jahresplan umsetzen und langfristig etwas für die Etablierung des Dharma tun.

Wir haben eine Langzeitvision und eine Vorstellung, wie die Studien hier aussehen sollten. Ich versuche nicht, die Klosteruniversitäten Ganden oder Sera zu kopieren, denn ich habe gesehen, dass dies nicht das Modell für den Westen ist. Westler wollen etwas, das ihre Herzen berührt, etwas, das ihnen in ihrem Leben hilft. Ich persönlich liebe die Studien, und wir bieten einige der philosophischen Studien hier an. Deshalb legen wir den Schwerpunkt auf die Praxis, so wie in der alten Kadampa Tradition.

Die klösterliche Gemeinschaft von Sravasti Abbey

Sravasti Abbey ist eine klösterliche Gemeinschaft in der Nähe von Newport im Staat Washington (USA). 2003 von der amerikanischen Nonne Thubten Chodron in ländlicher Umgebung gegründet bietet es Mönchen, Nonnen und Ordensanwärtern die Möglichkeit, eine Ausbildung in Studium und Meditation zu erhalten und Erfahrungen in der Gemeinschaft zu machen. Neben den traditionellen Inhalten wird in Sravasti Abbey besonderer Wert auf die Gleichheit der Geschlechter und soziales Engagement gelegt. Laien können eine Zeit lang im Kloster leben, arbeiten und praktizieren. Die Gemeinschaft lebt von Spenden.


dieser Artikel erschien in "Tibet und Buddhismus"

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